Der Stehpinkler oder Die Legende vom unsichtbaren Nebel

Horst war, um es milde auszudrücken, ein Stehpinkler-Purist. Er sah das Stehen als die natürliche, gottgegebene Haltung für den Mann, um die Blase zu entleeren. Setzen? Ein Akt der Kapitulation, eine Beleidigung der männlichen Präzision!
Sein Lebensmotto, das er oft mit vollem Bierbauch und triumphierendem Blick verkündete, war: "Ich bin ein Scharfschütze! Bei mir geht nix daneben!"
Seine Frau Karin, eine Pragmatikerin mit der Geduld eines Engels, hatte im Laufe der Jahre eine Art Zen-Haltung entwickelt. Aber das Thema blieb ein ewiger, feiner Spannungsbogen in ihrem gemeinsamen Haushalt.
Eines Tages, nachdem Horst mal wieder seine "Ich-treffe-alles"-Rede geschwungen hatte, grinste Karin vielsagend. Am nächsten Morgen, bevor Horst zur Tat schritt, hatte sie einen kleinen, unscheinbaren weißen Gegenstand neben die Toilettenschüssel platziert: ein Löschblatt.
Horst lachte. "Was soll das denn, Schatz? Ein Opfer für die Toilettengötter? Scharfschützen brauchen kein Fangnetz!"
Er entleerte seine Blase mit der gewohnten, selbstsicheren Eleganz. Triumphierend blickte er in die Schüssel, die – wie immer – den Hauptstrom perfekt aufgenommen hatte.
Als er sich umdrehte, sah er Karin mit verschränkten Armen und einem Grinsen, das zwischen amüsiert und ich-hab's-dir-doch-gesagt oszillierte.
"Schau mal, mein Präzisionskünstler", sagte sie und deutete auf das Löschblatt.
Horst beugte sich vor. Und da war es. Kein direkter Treffer. Keine Pfütze. Sondern ein zarter, sternförmiger Kranz aus winzigen, gelblichen Sprenkeln, die das Weiß des Papiers feucht verfärbt hatten. Der Beweis, eingefangen vom hyperempfindlichen Löschblatt. Es war nicht der Hauptstrahl, der daneben ging, es war die "Urintropfen-Aura", der legendäre, feine Urinsel-Nebel, der jeden Stehpinkler wie ein unsichtbarer, gelber Heiligenschein umgab.
Horst erstarrte. Es war, als hätte die Physik ihm gerade einen Kinnhaken verpasst. Sein stolzes Selbstbild als sanitärer Meister-Jäger zerfiel in winzige, unsichtbare Tröpfchen.
Karin reichte ihm einen Putzschwamm. "Du bist kein Scharfschütze, Horst. Du bist ein Nebelwerfer. Und Nebel muss man abwischen."
Seit diesem Tag hat Horst seine Haltung geändert. Nicht die Haltung beim Pinkeln – er ist schließlich immer noch ein Mann, und Gewohnheiten sterben hart. Aber seine Haltung zur Wahrheit. Er pinkelt immer noch im Stehen, aber nun murmelt er nachher leise vor sich hin, während er das Löschblatt inspiziert: "Ah, da ist er ja wieder, mein kleiner, unsichtbarer Nebel-Freund. Wir sehen uns morgen."
Und das Löschblatt blieb. Es war nicht nur ein Beweisstück, es war seine tägliche, demütige Mahnung: Die Natur lässt sich nicht von männlichem Stolz besiegen. Manchmal ist die größte Sauerei die, die man nicht sehen will.